„LATEINAMERIKA HAT MICH DEMUT UND RESPEKT GELEHRT“ - 18. September 2022

Ich mag die Kurstadt Baden bei Wien seit meiner Kindheit. Am liebsten ist sie mir, wenn das grandiose Festival La Gacilly-Baden Photo stattfindet. Fotograf Lois Lammerhuber hat die mittlerweile berühmt gewordene Outdoor Foto Ausstellung aus der Bretagne nach Baden gebracht. Während des Medienwochenendes hatte ich die Chance, mit ihm über das Festival und seine Erfahrungen als reisender Fotograf zu sprechen.

Entdeckt man ein Land mit der Kamera besser?

Ich nicht. Sicher war ich schon 300 Mal in Paris, aber von der Stadt habe ich so gut wie nichts gesehen.

Wie das?

Ich bin immer nur an ganz bestimmte Orte gefahren. Im UNESCO-Gebäude war ich sehr oft und im Louvre sicher hunderte Male. Ich kenne den Raum, in dem die Mona Lisa hängt, in- und auswendig. Bestimmte Plätze auf der ganzen Welt habe ich genau vor Augen. Aber ob ich ein Land mit der Kamera anders erlebe? Vielleicht schaut man bestimmte Dinge genauer an, wenn man eine Kamera benutzt. Und Leute, die Fotografien noch im Sinne von Lichtbildern interpretieren, bei denen das Tageslicht eine grosse Rolle spielt, reisen wahrscheinlich antizyklisch. Die sitzen wie andere auch um neun Uhr beim Frühstück, aber haben davor schon einige Stunden fotografiert, um das Licht zu nutzen. Man kann sich die Frage stellen, ob man in den frühen Stunden eine andere Welt erlebt? Um fünf Uhr morgens herrscht in einer Stadt natürlich ein ganz anderes Geschehen als später. Das ist eine schwierige Frage, die vermutlich nicht mal Philosophen auf die Schnelle beantworten können. Fotografie ist sicher ein Hilfsmittel, eine Auswahl zu treffen. Vielleicht versuche ich es nochmals anders zu erklären.

Festival La Gacilly-Baden Photo zvg
Die Outdoor Fotoausstellung, hier mit Vögeln von Sanna Kannisto, macht Baden zu einem magischen Ort, auch wenn die Aussagen der Bilder alles andere als heiter sind.

Nur zu

Nehmen wir einmal an, wir fahren das erste Mal nach Venedig. Dann behaupte ich, dass wir nicht in diese Stadt fahren, sondern in das Bild, das wir von Venedig haben. Wir haben schon tausendfach Fotos vom Canale Grande oder vom Markusplatz gesehen. Andere haben für uns Venedig definiert. Bevor wir überhaupt hinfahren, wissen wir, wie die Stadt aussieht. Das ist das Problem. Ich nenne noch ein zweites Beispiel, in das ich persönlich involviert war. Das letzte Werk des Architekten I. M. Pei war das Museum für Islamische Kunst in Katar. Zum Gebäude inspiriert hat ihn ein Badehaus bei der Ibn Tulun Moschee in Kairo, das aus übereinander geschichteten Steinblöcken besteht. Da er schon ein älterer Herr war, der erst einmal frühstücken ging, hat er dieses Badehaus mittags gesehen. Ich hatte den Auftrag, den Bau des Museums fotografisch zu dokumentieren und habe entlang des Lichts fotografiert. Als er dann meine ersten Bilder sah, wurde er wütend. Er berief extra ein Meeting mit 40 Leuten ein, die absolut keine Zeit hatten, sich aber zwei Stunden seine Tiraden anhören mussten, warum meine Fotos anscheinend nichts taugten. Bei ihm hatte sich das Bild des Badehauses in der Mittagsstimmung verfestigt. Ich musste ihm dann beibringen, dass die Welt draussen nicht nur um zwölf Uhr mittags stattfindet. Aber das war nun mal seine Vision und nur so sah er das Gebäude. Als wir bereits eineinhalb Stunden diskutierten, hatte ich eine Idee. Ich schlug ihm vor, dass er doch mit mir fotografieren solle. Also verliessen wir das Meeting und er ging er auf seinen Stock gestützt hinaus, griff zur Kamera und sah, dass Bilder, die um eine andere Zeit aufgenommen wurden, seiner Vision auf andere Weise gerecht wurden. Die Bauarbeiten dauerten jahrelang und man konnte das entstehende Museum ungehindert sehen und auch fotografieren. Doch die Marketingleute des Museums sagten, dass erst die Bilder, die sie bei der Eröffnung zeigen würden, das Gebäude definieren. Sie würden von allen nachfotografiert werden. Das zeigt, wie sich ein Bild von einem Gebäude verfestigt, obwohl man es auch ganz anders aufnehmen könnte. Mir fällt noch ein Beispiel aus Kärnten ein. In dem Bundesland befindet sich der höchste Berg Österreichs, der Grossglockner. Es hiess, wir müssen ihn „anders“aufnehmen. Meist wird er von der Pasterze aus fotografiert. So kennt ihn jeder. Von der Osttiroler Seite aus wirkt der Grossglockner aber viel dramatischer: Schwarz, kaum Schnee, ohne Gletscher. Wir sind bei diesem Auftrag mit dem Helikopter geflogen, waren nachts mit allen möglichen Fahrzeugen unterwegs. Sogar ein Baum wurde wegen der besseren Perspektive gefällt. Aber diese Bilder wurden nie veröffentlicht. Es hiess bei Kärnten Werbung zwar, wir wollen neue Ansichten, aber macht doch noch schnell ein Foto von der Pasterze aus.
Bestimmte Bilder brennen sich bei uns ein und die suchen wir dann.
Oder wir laufen in Venedig herum, um wieder auf das Eingangsbeispiel zurückzukommen, und suchen das andere Venedig. Das ist auch Blödsinn. Das andere Venedig ist das Venedig der armen Leute. Da ist nichts, da gibt es weder Kunstwerke noch besondere Gebäude. Da herrscht nur eine Ästhetik des Verfalls. Kein Mensch möchte dort wohnen. Aber ganz vordergründig und oberflächlich betrachtet wirkt es schon auf eine Weise charmant …

Sie waren lange in Lateinamerika und sagen, dass Sie dort alles Wichtige gelernt haben. Was denn?

Demut und Respekt.

Wie kam es dazu?

Ich war damals ein junger Mann und schnell im Kopf, dachte, dass ich eine ganze Menge weiss. Wenn man zwei Jahre in einem anderen Kontinent lebt und arbeitet, bekommt man einen Eindruck vom Alltag dort. Ich lernte sehr viele Menschen kennen, auch sehr einfache, und habe bei ihnen eine unglaubliche Offenheit erlebt, auch gegenüber dem Fremden. Und dass sie bereit sind, zu teilen. Ich denke, dass ich niemanden getroffen habe, der per se schlecht gewesen wäre. Gruppendynamik mal beiseite gestellt. Diese Erfahrungen haben mich Demut gegenüber dem Leben und den Menschen gelehrt und vor allem Respekt.
Während dieser Zeit haben Sie Ihre Liebe zur Fotografie entdeckt und beschlossen, sie zum Beruf zu machen. Was war der Auslöser dafür?
Als ich das erste Mal in eine Redaktion ging und meine Bilder, die ich mitgebracht hatte, akzeptiert wurden und ich so viel Geld dafür erhielt, wie ich sonst in einem Monat verdiente. Ich dachte, das ist es. Ich kann tun, was ich gerne mache und bekomme noch einen Haufen Geld dafür.

Nachdem Sie zurück waren, sind Sie einfach auf gut Glück in eine Redaktion gegangen und haben Ihre Fotos gezeigt? Mutig.

Mein Bruder hatte im Archiv eines Wochenmagazins gearbeitet, als ich mit meiner späteren Frau Silvia nach Sri Lanka fahren wollte. Er sagte mir, ich solle Fotos machen, da sie exotisches Bildmaterial bräuchten und dass ich dafür ein paar hundert Schilling bekommen würde. Als ich ihm nach meiner Rückkehr die Fotos zeigte, riet er mir, den Chef des Ressorts Freizeit anzurufen. Der hatte über meinem Bruder schon von mir gehört und nahm an, dass ich Fotograf sei. Als ich auf meine Sri-Lanka-Bilder zu sprechen kam, sagte er, dass er Fotos aus der Karibik wolle. Da schlug ich ihm meine Fotos aus Mexiko vor und er war einverstanden. Er verlangte, dass ich ihm am nächsten Montag 40 Bilder und 80 Zeilen Text bringen sollte. In der Schule konnte ich immer ganz gut schreiben und so verfasste ich übers Wochenende einen „besseren“ Aufsatz. Er fand Bilder und Text gut und so ging es los. Bald rief ich auch bei Magazinen an. Hatte gelernt, dass ich immer sagen musste, dass ich in Amerika gewesen war, denn das machte Eindruck. Schliesslich kündigte ich meinen Brotjob und wunderte mich über das viele Geld, das mir gezahlt wurde. Ab diesem Moment war ich mehr in der Luft als am Boden.

Festival La Gacilly-Baden Photo zvg
Kunst inmitten von Häusern. Der österreichischen Soziologin und Fotografin Verena Prenner geht es um Würde. Eine Arbeit aus ihrer Zeit in einem Flüchtlingscamp in der Westbank

Seitdem haben Sie auf leichte Weise Geld verdient?

Nein, die Chefredakteure haben mich schlecht bezahlt. Sie haben rasch gemerkt, dass ich keine Ahnung vom Business hatte. Für Claus Deutelmoser, den früheren Chefredakteur der «Traveller’s World», hatte ich auch gearbeitet. Viele Jahre später sagte er mir folgendes: Als ich Dich traf, sah ich, dass Du ein gewisses Talent fürs Fotografieren und Schreiben hast, aber keine Ahnung vom Geschäft. Da beschloss ich, Dich auszubeuten.

Was hat Sie die Fotografie gelehrt?

Ebenfalls Demut und Respekt. Und dass es viele Menschen gibt, die gern etwas beitragen würden, um die Welt zu einem etwas besseren Ort zu machen. Viele von ihnen sind Fotografinnen und Fotografen.

Festival La Gacilly-Baden Photo zvg
Im Vorbeigehen einen Blick auf die Welt und ihre Probleme werfen. Der isländische Fotograf Ragnar Axelsson hält fest, wie Grönländern förmlich die Lebensgrundlage wegschmilzt

Als Jacques Rocher 2003 das Fotofestival in La Gacilly ins Leben rief, wollte er den Leuten dort, die Welt nach Hause bringen. Viele der Einwohner haben das Dorf nie verlassen. Was war Ihre Intention, als Sie das Festival vor fünf Jahren nach Baden gebracht haben?

Mir hat das einfach gefallen. So etwas Besonderes und eindrucksvoll Schönes wollte ich auch gern in Baden haben. Aber Faktum ist: Festivals gehen nicht auf Reisen. Aber dann fiel mir die Art Basel Miami Beach ein und habe das Jacques als Beispiel genannt. Und dass sich La Gacilly knapp am Atlantik befindet und wir hier in Baden knapp da, wo sich früher der Eiserne Vorhang befand. Und dazwischen liegt die Matrix, auf der das moderne Europa errichtet wurde. Das waren überzeugende Argumente und so haben wir zusammengefunden und beschlossen „gemeinsame Sache“ zu machen.

Was gibt das Fotofestival Ihrer Meinung nach den Einwohnerinnen und Einwohnern von Baden?

Baden ist eine konservative Stadt, ja eine Art Schlafstadt von Wien. Hier geht es ruhig zu und hier leben auch für europäische Verhältnisse überwiegend viele wohlhabende Menschen. Durch das Festival passiert etwas Neues und es verleiht Baden eine zusätzliche Facette, mit der die Bewohnerinnen und Bewohner etwas anfangen können. Sie führt dazu, dass sie noch lieber hier wohnen. Wenn im April, Mai die ersten Vorbereitungen für das Festival zu erkennen sind, beginnen die Leute nachzufragen, was denn passiert. Die Stadt zieht sich dann eine Art Sommerkleid an. Ich habe den Eindruck, dass dieses bunte Kleid sehr vielen gefällt. Mich wundert das ein wenig, denn viele Themen des Festivals sind sehr schwierig, manche sind herausfordernd. Es sind Themen mit humanistisch orientierten Aussagen. Beim diesjährigen Schwerpunkt Nordwärts ist es weniger leicht erkennbar, aber wenn man sich ansieht, was Nick Brandt in seinen Ausstellungen zur Diskussion stellt oder alles, was an der so genannten Südmauer des Dobelhoffparks hängt … Arbeiten über das Abschmelzen der Gletscher und über das Zweistromland zwischen Euphrat und Tigris.

Mich haben die Bilder von Ragnar Axelsson und Tiina Itkonen fast noch mehr beeindruckt. Sie zeigen auf sehr persönliche Weise, wie die Lebensgrundlage der Bewohner von Grönland nach und nach schwindet.

Ich glaube, das Festival wirkt identitätsstiftend für Baden. Dass wir es CO2-neutral durchführen können, ist ein schlagender Beweis dafür, denn die Finanzierung der Klimaneutralität des Festivals wird von Badener Bürgerinnen und Bürgern ermöglicht. Sogar Einzelpersonen kommen auf mich zu und stellen ihre Hausfassaden zur Verfügung, damit wir dort Bilder zeigen können. Das ist natürlich wunderschön.

Festival La Gacilly-Baden Photo
Die Welt in Afrika ist durch menschlichen Raubbau ziemlich aus den Fugen geraten. Die Folgen zeigt der ehemalige Musikvideo Regisseur und heutige Aktivist Nick Brandt.

Was fasziniert Sie immer wieder erneut am Festival?

Dass ich am relativen Ende meiner Karriere in der Stadt, in der ich wohne, eine Facette zu ihrer kulturellen Weiterentwicklung beitragen darf.

 

Lois Lammerhuber, 70, ist einer der renommiertesten Fotografen Österreichs. Zusammen mit seiner Frau Silvia betreibt er den Kunst- und Fotobuchverlag Edition Lammerhuber. 2018 holte er das Outdoor Festival La Gacilly Photo aus der Bretagne nach Baden bei Wien, seinem Wohnort. Die Bilder der weltbesten Fotografinnen und Fotografen sind jeweils von Juni bis Oktober in der ganzen Stadt zu sehen. Sie hängen an Hauswänden oder sind in den Parks der Stadt ausgestellt. Jedes Jahr hat das grösste Outdoor Foto Festival Europas, das klimaneutral durchgeführt wird, einen anderen Länderschwerpunkt. Auch setzen sich zahlreiche Künstlerinnen und Künstler intensiv mit dem Thema Umwelt und Klimawandel auseinander.

Die aktuelle Ausstellung «Nordwärts!» dauert noch bis 16. Oktober 2022. Nächstes Jahr werden Werke von Fotografinnen und Fotografen aus dem mittleren und Nahen Osten gezeigt.
https://festival-lagacilly-baden.photo

Foto von Lois Lammerhuber: Florian Czech
Übrige Fotos: Festival La Gacilly-Baden Photo zvg