"Man muss immer ganz klar in seiner Haltung sein"

Du fotografierst Menschen in Ausnahmesituationen und häufig Frauen, die am Rande der Gesellschaft stehen. Warum? 

Ich denke, dass diese Menschen ganz besonders eine Plattform benötigen, um gesehen zu werden. Schon zu Beginn meiner fotografischen Tätigkeit sah ich die Sinnhaftigkeit darin, diejenigen zu fotografieren, die ihrer Stimme beraubt wurden, weil man sie ausgegrenzt hatte. Es gab auch Erlebnisse im Freundeskreis und schon zu Schulzeiten, die mir zeigten, wie schnell jemand aus der Normalität getrieben werden kann. Sicher hat mich das sensibilisiert, jeweils genauer hinzusehen. 

Was willst Du uns mitteilen, wenn Du Frauen aus Ghana zeigst, die dort als Hexen verfolgt werden oder weibliche Gefangene, die schon lange ohne Verfahren in südamerikanischen Gefängnissen sitzen?  

Sie sind einer Situation ausgesetzt, in der sie sich selbst gar nicht zur Wehr setzen können, weil es ihnen das System nicht erlaubt. Indem ich sie fotografiere, versuche ich diesen Frauen eine Form von Selbstermächtigung zu geben. Ich hoffe, dass sie dadurch wahrgenommen werden und dass sie Selbstvertrauen bekommen, sich für sich selbst, aber auch für andere Frauen in ähnlicher Lage einzusetzen. Es ist schön zu sehen, dass beispielsweise einige der Überlebenden von Säureattacken, die ich von 2012 bis 2014 für mein Langzeitprojekt UN/SICHTBAR (IN/VISIBLE) fotografiert habe, Aktivistinnen geworden sind. Gleichzeitig möchte ich eine Brücke bauen, so dass auch andere erfahren, was diese äusseren und inneren Wunden mit den Menschen machen. Ich will diese Frauen als Überlebende darstellen, nicht als Opfer. Das ist mir sehr wichtig. Vor der unglaublichen Kraft, die sie jeden Tag aufs Neue benötigen, ziehe ich meinen Hut. Für mich ist es ein Geschenk, diesen Beruf ausüben zu dürfen und so will ich zumindest versuchen, etwas zu bewegen. Darin sehe ich mehr denn je die Aufgabe von uns Kunstschaffenden, egal um welche Themen es sich handelt.


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Wie bist Du an die vermeintlichen Hexen in Afrika herangekommen oder an die Gefängnisinsassinnen in Kolumbien?

In Kolumbien war ich vor 20 Jahren für die Zeitschrift «Marie Claire». Es ging darum, anhand vonFrauen und ihrer Lebensgeschichten einen Querschnitt der Gesellschaft zu zeigen: von der Schauspielerin bis hin zu einer Binnenflüchtlingsfamilie. Während des Aufenthalts hatten die Autorin des Artikels und ich von einer FARC-Rebellin gehört und besuchten sie im Gefängnis, um ihre Lebensgeschichte zu erzählen. Das führte dazu, dass letztendlich ein ganzer Bericht über das Gefängnis entstand. Über die Frauen, die als Hexen stigmatisiert wurden, hatte ich 2005 in einer französischen Tageszeitung einen kurzen Artikel gelesen. Ein kleines Foto von einer dieser Frauen hat mich förmlich erschüttert und liess mich den Entschluss fassen, dorthin zu reisen. Wie es der Zufall wollte, hatte ich zwei Monate zuvor auf einem Geburtstag in Frankfurt die ghanaische Künstlerin Senam Okudzeto kennengelernt, die in Basel lebt. Ich habe sie kontaktiert und ihr gesagt, dass ich dieses Projekt in Nordghana machen möchte. Sie war selbst überrascht und sagte mir, dass sie im Süden des Landes nicht so sehr über den Norden von Ghana informiert seien, nichts über diese Folgen des Aberglaubens wüssten. Aber sie gab mir bei ihrer Familie in Ghana erst einmal Obhut.

Es muss Dich also persönlich etwas betroffen machen, damit Du ein Thema angehst?

Ja, diese Projekte sind immer dadurch entstanden, dass mich etwas berührt hat, ob es nun ein Artikel war oder eine persönliche Begegnung. Ein Treffen mit einem Brandopfer war beispielsweise der Auslöser für das Langzeitprojekt UN/SICHTBAR (IN/VISIBLE). Eine Freundin bat mich, an einer Ausstellungseröffnung doch ein wenig nach einem Bekannten von ihr zu schauen. Ein Unfall in der Kindheit hatte ihn praktisch entstellt. An diesem Abend zu erleben, wie die Leute mit ihm umgingen oder nicht umgingen, hat mich schwer berührt. Alle schauten an ihm vorbei, weil niemand wusste, mit der Andersartigkeit umzugehen. Ich tat mich am Anfang auch nicht ganz leicht damit. Doch diese Berührungsangst fügt so einem Menschen noch mehr Wunden hinzu.

Wie hast Du dich auf die Begegnungen jeweils vorbereitet?

Natürlich habe ich über die Orte und Themen recherchiert, aber letztendlich musste ich immer mit einem gewissen Vertrauen reisen. Ich wusste ja überhaupt nicht, was mich erwarten würde. Oftmals war es vorab gar nicht möglich, Mails zu schreiben oder irgendwie sonst Kontakt aufzunehmen. Ich glaube an die Begegnung, das Miteinander und das Gefühl des Vertrauens, das man entweder von vornherein spürt oder nicht. Manchmal waren Organisationen vor Ort Anlaufstellen für mich, aber dass mir jemand Vertrauen schenkt und dass ich die Person dann in ihrem Leben begleiten darf, ist nicht im Vorfeld organisierbar.

Du warst in Albanien, Indien, Ghana, in Ländern, wo man als Frau nicht unbedingt allein hinreist. Wie war das für Dich?

Da ich immer als Fotografin unterwegs war, habe ich mich mehr in dieser Rolle gesehen denn als Frau. Das gab mir einen gewissen Schutz, so dass ich mich selten verwundbar oder verunsichert gefühlt habe. Dem Kulturkodex habe ich mich natürlich angepasst und entsprechende Kleidung getragen. Sicher half auch, dass meine Projekte oft mit sehr persönlichen Lebensgeschichten zu tun hatten und ich mich meist als Teil des jeweiligen Mikrokosmos sah und mich dadurch geschützt gefühlt habe. Natürlich gab es auf meinen Reisen die eine oder andere brenzlige Situation, aber ich habe es stets geschafft, im Vertrauen zu bleiben und mir zu sagen, dass alles gut wird. Einmal nach dem Krieg, 1999, sollte ich in Pristina bei einer Flüchtlingsfamilie wohnen, die ich in Sarajevo kennengelernt hatte. Als dies nicht geklappt hatte, haben mich zwei pakistanische Offiziere, die für die UN-Friedensmission in Kosovo stationiert waren, bei sich unterkommen lassen. Der ältere der beiden hatte mir freundlicherweise sein Schlafzimmer in der kleinen Wohnung überlassen. Als mir irgendwann der jüngere Offizier Avancen machte, habe ich versucht, ganz in meiner Rolle als Fotografin zu bleiben und mich nicht verunsichern zu lassen. Ich denke, man muss immer ganz klar in seiner Haltung sein. Dass ich mir immer wieder in Erinnerung rief, warum ich eigentlich an diesen und jenen Ort gekommen bin und was mein Auftrag war, half mir und liess mich mit einem Urvertrauen reisen. Dann bekommen unangenehme Zwischenfälle auch gar keine so grosse Bedeutung.


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Was hast Du auf Deinen Reisen über die Stellung der Frauen in der Welt gelernt?

Ich habe zum Teil in patriarchalischen Gesellschaften Frauen getroffen, deren Stellung nicht gerade einfach ist und wo noch viel Raum für einen Umbruch besteht. Doch habe ich zugleich unglaubliche Stärke und Resilienz erlebt. Auch dort haben die Frauen ihren Platz gefunden und behaupten sich, selbst wenn sie für etwas stehen, wofür sie ausgegrenzt oder gar stigmatisiert werden. Bei meiner ersten Protagonistin, Neehaari, einer Inderin, habe ich aus nächster Nähe mitbekommen, wie viel Kraft es ihr jeden Tag abverlangt hat, sich zu sagen «ich habe auch ein Recht zu sein», sich erneut den Blicken der anderen auszusetzen und weiter zu machen. Sie kam für die Ausstellung nach München und reiste einen Monat lang mit mir nach Berlin, Frankfurt und Lodi für weitere Ausstellungen und Buchpräsentationen, wo sie sich erstmals frei fühlte. Als ich einige Zeit zuvor mit ihr durch die Strassen in Hyderabad gegangen war, erlebte ich hautnah mit, wie die Leute mit dem Finger auf sie zeigten oder junge Mädchen sie verächtlich ansahen. Das tat weh. Die Menschen haben keine Ahnung, was sie da anrichten. Umso mehr habe ich sie dafür bewundert, wie sie dem begegnet ist. Heute ist sie eine sehr engagierte Aktivistin.

Eine Frage wäre gewesen, was wir für diese Frauen tun können. Aber deinen Worten entnehme ich, dass wir viel von ihnen lernen können, diese Stärke und Resilienz ...

Ja.  Und mit Demut und Dankbarkeit dem Leben begegnen.

Wenn wir auf Reisen sind oder von solchen Fällen hören, was können wir tun?

Ich habe bei all meinen Projekten, versucht, eine Form von langfristiger Unterstützung zu geben. Bei UN/SICHTBAR (IN/VISIBLE) habe ich meine Bilder der Schirmorganisation für Säureüberlebende ASTI (ACID SURVIVOR TRUST INTERNATIONAL) https://www.asti.org.uk vor Ort zu Verfügung gestellt und sie so dabei unterstützt, Gelder zu generieren. Bei dem Langzeitprojekt WITCHES IN EXILE https://witches-in-exile.art/ habe ich fünf Prozent der Einnahmen durch Buchverkäufe und zehn Prozent von Editionsverkäufen der Organisation Witch-Hunt Victims Empowerment Project (WHVEP) zukommen lassen. Sie wird heute von Barnabas Dalabra als Outcast Support Project weitergeführt wird. Ich finde es wichtig, diesen Frauen zu begegnen und nicht wegzuschauen. Und ihnen, wenn möglich, Mut zu machen, dass sie den Weg der Selbstermächtigung gehen.


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Woran arbeitest Du gerade?

In einem aktuellen Projekt geht es um Ausgrenzung und die Koexistenz von Welten, aber auf eine ganz abstrakte Weise. Ein kleines Artist-in-Residence-Programm führte mich in einen Bilderbuchort nach Südfrankreich. Nicht weit von dort entfernt, wo ich wohnte, entdeckte ich einen kilometerlangen, weissen Zaun. Ich fand das bedrückend und energetisch irgendwie seltsam. Nun, hinter diesem Zaum verbirgt sich die grösste psychiatrische Anstalt der Provence. Der Zaun trennt den Ort in zwei Welten, die voneinander nichts wissen. Das hat mich dazu angeregt, etwas darüber zu machen, wie das Aussen mit der verschlossenen Welt umgeht. Mit einer Philosophin arbeitete ich an dem Thema «Grenzen ziehen» und wie viel das mit Angst zu tun hat. Daraus ist das Projekt TRAVERSOI, ein philosophischer Ansatz zum Thema Berührungsängste, entstanden. Was trennt uns eigentlich? Erschaffen wir diese Trennungen selbst oder werden sie uns auferlegt? Ich arbeite das erste Mal auch mit Musik. Mein Leben lang habe ich am Klavier improvisiert, habe sogar das Musik Abitur gemacht. Doch durch die Fotografie und die vielen Reisen habe ich das Klavierspiel vernachlässigt. Jetzt bin ich dabei, es wieder mehr zu integrieren. Und für ein Projekt über Migration habe ich vor kurzem eine Förderung bekommen. Es führt wieder zurück zu meiner bisherigen Arbeit.

Sind Deine Werke zum Thema Ausgrenzung derzeit zu sehen?

TRAVERSOI ist derzeit in meinem Studio in München zu sehen. Mit einigen Werken zum Thema aus verschiedenen Serien bin ich bis 11. September in der Gruppenausstellung «The Female Gaze» in Frankfurt am Main vertreten (Die Galerie, Grüneburgweg 123, www.die-galerie.com)


Zur Person:

Die Deutsch-Französin Ann-Christine Woehrl ist in München aufgewachsen, wo sie heute auch lebt. Sie studierte in Paris und bildete sich anschliessend in den USA weiter, war Assistentin bei David Turnley in Paris, absolvierte Praktika bei Magnum Photos in Paris und bei der Fotoagentur Tom Keller & Associates in New York. Ihre Fotos wurden unter anderem in «Brigitte», «Femina», «Frankfurter Allgemeine Zeitung», «The Guardian», «NZZ am Sonntag», «Süddeutsche Zeitung», «TAZ» sowie in den «Geo»-Ausgaben in Deutschland, Italien, Korea und Russland und mehrfach in Büchern bei Edition Lammerhuber veröffentlicht. Die 49-Jährige stellte in zahlreichen Museen und Galerien in Europa, Argentinien, Kanada, Kambodscha und in den USA aus, etwa in der National Portrait Gallery in London oder  im Tuol Sleng Genocide Museum in Kambodscha. Zuletzt erhielt die international ausgezeichnete, freischaffende Fotokünstlerin 2021 den Deutschen Photobuchpreis in Silber für das Buch «Witches in Exile und war auf der Shortlist des African Photobook of the Year Awards der Eiger Foundation in der Schweiz.



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